LONDON – Hidden Jazz Club
Zerrissen zwischen menschenverachtender Peinigung auf der einen und zunehmendem Widerstand gegen die jahrzehntelange Ausbeutung auf der anderen Seite erklang im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Straßen Amerikas immer öfter eine Mischung aus den rhythmischen Worksongs der Sklaven und europäischer Musik, welche zuerst in den Marching Bands, später in der Ragtime-Ära gipfelte. Bis sich daraus das vollständig neue und gerade bei jungen Menschen populäre Musikgenre des Jazz entwickelte, dauerte es noch einige Jahre. Unaufhaltsam war aber schlussendlich das Überschwappen der Klangwelle nach Großbritannien in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Gereift zu einem Stil, in dem die Improvisation über das reine „Spielen vom Notenblatt“ siegte, zogen Piano, Saxophon, Trompete und Kontrabass in zahlreichen verrauchten und verruchten Lokalen der USA und Großbritanniens ein und begeisterten die stetig wachsende Fangemeinde mit brillianten Soli und der so typischen Jazzharmonik.
Im Zuge meiner Reisevorbereitungen realisierte ich schnell, dass Jazzabende in London überwiegend den Erwachsenen vorbehalten sind, zumindest wenn man eine Live-Performance im legendären „Ronnie Scott’s“ im Kopf hat. Ich musste mir also etwas Anderes einfallen lassen, um wenigstens einmal gemeinsam mit den Kindern in diese großartige Welt der perfektionierten musikalischen Kooperation einzutauchen.
Meine Suche führte mich zu einem recht jungen und engagierten Jazzsänger und -komponisten, der mir gleichwohl völlig unbekannt war. Theo Jackson ist seit sieben Jahren Gastgeber des „Hidden Jazz Club“, der regelmäßig an unterschiedlichen Orten Londons gastiert und Jazztalente aus aller Herren Länder zusammenführt. Nach intensivem Austausch im Vorfeld mit ihm und seiner Rücksprache mit den Verantwortlichen des Veranstaltungsortes selbst bekam ich grünes Licht.
Von der belebten Straße aus erahnten wir nicht, was sich hinter dem „Stone Nest“ verbergen könnte. Draußen drängten sich hunderte Menschen an der Charing Cross Road. Aufgetakelte Damen mit hochhackigen, spitzzulaufenden Schuhen und knallrotem Lippenstift im Gesicht, schlaksige junge Burschen mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, schnatternde und Kaffee aus braun-grünen Starbucks-Bechern schlürfende Frauengrüppchen und grölende Männerhorden, die ihre Blicke wahlweise auf die Displays ihrer Mobiltelefone oder auf die holde Weiblichkeit richteten – sie alle waren an diesem Samstagabend auf dem Weg ins Kino, in eines der West-End-Theater, zu Freunden, ins Restaurant, in den Pub oder Club.
Als wir am Sicherheitspersonal vorbei das Gebäude über die Shaftesbury Ave betraten, hatten wir nicht das Gefühl, an einem besonders geschichtsträchtigen Ort zu sein. Mit schwarzen Armbändern ausgestattet, die uns das Platznehmen in den vordersten drei Reihen erlaubten, gingen wir durch das enge, nur schwach ausgeleuchtete Foyer in den hinteren Bereich des Gebäudes und betraten die versteckt liegende „Charing Cross Kapelle“.
Die ehemalige im neuromanischen Stil erbaute walisische Kirche mit der markanten Kuppel bot eine ganz besondere Kulisse für den kommenden Jazz-Abend und füllte sich langsam mit Besuchern. Theo Jackson begrüßte uns und wechselte ein paar Worte mit mir, bevor er mit der offiziellen Moderation des Abends begann.
Wer die Protagonisten des „Hidden Jazz Club“ an diesem Samstag sein sollten, blieb bis kurz vor Veranstaltungsbeginn nicht nur für das geneigte Publikum ein Geheimnis, sondern war – so konnten wir Theos Worten entnehmen – sogar für den Gastgeber selbst eine Überraschung. „Things can change last minute in our world …“, begann er die freundschaftliche Vorstellung der Musiker auf der Bühne, die vielmehr den Anschein einer erweiterten Familie weckten und weniger den rein professioneller Kollegen. Noch nie zuvor hätten sie in dieser Konstellation gemeinsam gespielt, erzählte Jackson.
Er ermunterte das Publikum, die typische Londoner Steifheit für die nächsten zwei Stunden abzulegen und dem Jazz auf der Bühne nicht nur zu lauschen, sondern aktiv daran teilzuhaben.
Laurin (17) tat es zwar einen Moment lang leid, dass kein Saxophonist mitspielte, jedoch währte sein Bedauern nicht lange. Der Mann an der Trompete, Mark Kavuma, seit über einem Jahrzehnt ein Fixstern am Londoner Jazzhimmel, beherrschte sein Instrument technisch dermaßen gut und hatte ein so unglaubliches Gefühl für die Musik, dass er meinen ältesten Sohn und alle anderen Anwesenden sofort begeistern und für sich gewinnen konnte.
Die Harmonie zwischen jungen, eher unkonventionellen Mitgliedern der britischen Jazzszene am Beispiel des Schlagzeugers Robbie Ellison mit alten Hasen wie dem Pianisten Rob Barron war spürbar und resultierte in deren Musik.
Erst in der jüngsten Vergangenheit komponierte und arrangierte Ellison einige zeitgenössische Jazzstücke im Swing-Stil für sein Septett, wofür er im Rahmen des „Battersea Jazz Festivals“ große Anerkennung erntete. Womöglich ist er auf dem besten Weg dorthin, wo Barron sich schon einige Zeit lang aufhält, nämlich am Zenit des Londoner Jazzhimmels. Als Pianist mit einem unbeschreiblichen Improvisationstalent kann er den ganz Großen der Welt gewiss das Wasser reichen. Nun, grundlos wird man wohl nicht Professor für Jazzpiano an der renommierten „Guildhall School of Music and Drama“.
Zum mir völlig unbekannten Musiker am Kontrabass konnte ich leider überhaupt nichts in Erfahrung bringen, jedoch fügte er sich stimmig in die Gesamttruppe ein.
Umso bekannter war die Vokalistin des Abends. Georgia Cécile zählt seit einigen Jahren zu den vielversprechendsten Jazzsängerinnen des Vereinigten Königreichs und sahnt einen Preis nach dem anderen ab. Mit ihrem Charme und ihrer unglaublichen Stimme hatte sie das Publikum sofort in ihren Bann gezogen.
Es wurde gewippt und gejauchzt, geklatscht und gejubelt. „Yeah“s, „Come on“s und „Uhuuuu“s unterstrichen die lockere Atmosphäre. Was für ein großartiger Abend! Welch einmaliges Erlebnis!