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LONDON – Streetart

Kennt ihr kreative Menschen? Oder habt ihr selbst diesen ganz besonderen, schöpferischen Blick auf die Welt, der allen Künstlern dieses Erdballs gemein ist? In unserem Haus füllt unsere Tochter Maja (14) jedes ihr zur Verfügung stehende weiße Blatt mit fantasievollen Kreationen. Jüngst wurde die Aquarellmalerei von Bleistiftzeichnungen im Mangastil abgelöst. In ihrem Zimmer lagern die unterschiedlichsten Pigmentträger, Pinsel und Skizzenpapier im Übermaß. Der Raum selbst ist eine einzige jahreszeitenangepasste Wechselausstellung. Es würde uns nicht wundern, wenn sich ihre lauter werdenden Schreie nach Unabhängigkeit und Freiheit, die schon die Jugendlichen aller früheren Generationen auf dieselbe Art und Weise in die Welt posaunten, auf die Orte ihres künstlerischen Ausdrucks ausweiten würden. Streetart ist für mich der Inbegriff des Hinaustretens in die Welt sowie der Gefühlsäußerung im öffentlichen Raum unter dem Deckmantel der Anonymität.

Bei der Reiseplanung zu unserer Londonreise hielt sich Maja mit Ausflugswünschen zurück. Sie überließ die Auswahl mir und vertraute darauf, dass ich Rücksicht auf alle Interessen und Vorlieben unserer kleinen Truppe nehmen würde. Für mich fühlte es sich stimmig an, einen Tag lang der Londoner Straßenkunst zu widmen. Viel Vorbereitung war dafür nicht erforderlich. Lediglich ein bestimmtes Stadtviertel hatte ich im Vorfeld für einen ausgiebigen Spaziergang auserkoren: Shoreditch.

Das erste grandiose Bild, das wir entdeckten, stammte von Tom Blackford, kein unbeschriebenes Blatt in der Urban-Art-Szene. 1981 in London geboren begann er mit dem Zeichnen als Teenager, nahm es jedoch erst in seinen Zwanzigern ernst, nachdem er sein Studium abgebrochen hatte. Heute widmet sich Blackford nicht nur der Wandmalerei, sondern auch der Illustration.

In der „Hanbury Street“ stach uns dann das erst vor wenigen Monaten entstandene Kunstwerk „You got a lighter?“ des Künstlers „The Reves One“ ins Auge.

Wenn man sich mit Urban Art in London beschäftigt, stolpert man unwillkürlich über die „Brick Lane“ im „East End“ der Stadt, jener Gegend, in der im Jahr 1888 „Jack the Ripper“ sein Unwesen trieb. Obwohl Streetart in der Regel äußerst kurzlebig ist – man weiß nicht, ob man morgen noch die Werke von heute sehen wird – halten sich einige legendäre „Murals“ (Wandmalereien) über lange Zeiträume. Eines der berühmtesten Werke der „Brick Lane“ ist wohl der „Kranich“ des belgischen Künstlers ROA.


ROAs Markenzeichen sind überdimensional große Tiere, in schwarz-weiß gehalten und mit einer beeindruckenden Detailtreue verwirklicht. Man erkennt einfach seine ganz individuelle „Handschrift“. Andere Bilder wiederum konnte ich nicht einmal in der Nachrecherche einem bestimmten Künstler zuordnen.

Bei den äußerst realistischen Porträts des italienischen Künstlers Marco Doppel muss man nicht lange raten. Seine Wandmalereien werden üblicherweise „signiert“.

Auch sein Kollege Everett Reynolds aus Chicago hinterlässt seine Unterschrift.

Wir hatten uns in der Zwischenzeit im „Old Spitalfields Market“ mit Streetfood versorgt und verspeisten unsere „Spicy Jalapeno cheese fries“ in den „Allen Gardens“, einer einfachen Grünanlage inmitten eines eher heruntergekommenen Viertels, das von den Gleisen der „London Overground“ durchkreuzt wird und von zwielichtigen Gestalten und Vandalismus geprägt ist. Doch vielleicht wegen des Hauchs der „Gesetzlosigkeit“, den diese Gegend versprühte, tobten Laurin (17) und Maja (14) – losgelöst von jeglichen gesellschaftlichen Konventionen – wie kleine Kinder am Spielplatz herum. Quietschend und lachend drehten sie sich am Hängekarussell und fuhren gemeinsam mit „wahnsinniger Geschwindigkeit“ auf der Seilbahn, bis sie runterpurzelten.

Nicht weit von unserem Rastplatz entfernt war eine Gemeinschaftsarbeit der Künstler „Fanakapan“ (bekannt für seine „Heliumballon-Buchstaben“) und „Jim Vision“ mit dem Titel „A Psychedelic High 5“ zu sehen, welches im Jahr 2019 im Rahmen des „Graffestival Graffiti Mural Festivals“ in Shoreditch entstanden war.

Egal, wo uns unsere Nasen hinführten, an jeder Ecke drängten sich weitere bunte Wände auf, die wir fasziniert betrachteten.

Der Schwerpunkt des 1982 geborenen Briten David Speed liegt schon seit geraumer Zeit auf der „Neonmalerei“. Nach einer größtenteils illegalen Graffiti-Karriere widmet er sich heute ganz der Aufgabe, anderen Menschen zu helfen, mit ihrer Kreativität in Kontakt zu kommen. Licht und Schatten – meist ein rot-schwarzes Farbenspiel – sind sein Metier.

Eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der australischen Graffiti-Bewegung der 90er Jahre spielte James Cochran („Jimmy C“). Seine Porträts und Stadtlandschaften entstehen oft ausschließlich aus Spritzern oder Punkten von Sprühfarbe. Die sogenannten „Drip Paintings“ und „Scribble Paintings“ waren das Resultat einer Kombination von Graffiti – Crochans Leidenschaft – und figurativer Ölmalerei, mit der er im Rahmen seines Masterstudiums in „Bildender Kunst“ in Kontakt kam. Heute lebt Cochran in London.

Einer der führenden Protagonisten der Londoner Urban-Art-Kultur ist der oben bereits erwähnte Jim Vision. Er ist einer der Gründer des East-End-Kreativstudios „EndoftheLine“ und erlangte einen derart großen Bekanntheitsgrad, das an zahlreichen prominenten Stellen über den Globus verstreut auffällige und einzigartige Auftragsarbeiten zu sehen sind.

Auch „Mr. Cenz“ schaffte den Sprung in den kommerziellen Sektor und füllt mit seinen Arbeiten in der Zwischenzeit ganze Ausstellungen in unterschiedlichsten Ländern. Er ist für seine farbenfrohen Frauengesichter bekannt und schuf gemeinsam mit „Lovepusher“ das Wandbild „Future“.

Ich erinnere mich noch gut an die Phase, in der Maja beinahe nur Augen in allen nur erdenklichen Varianten und Größen zeichnete. Sie sahen einem aus ihrem Englisch-Vokabelheft, von der weggeworfenen Einkaufsliste im Altpapierkorb und aus ihrem Skizzenblock an. Auch der Kreativgeist „My dog sighs“ spezialisierte sich auf Augen, die bei genauerer Betrachtung die Skyline bestimmter Städte widerspiegeln.

Der chilenische Künstler und Architekt Otto Schade (Künstlername „Osch“) lebt seit dem Jahr 2006 in London und fällt in der Straßenkunstszene vor allem durch seine Bandtechnik und zeitkritische Inhalte seiner „Murals“ auf, die er immer wieder satirisch abstrahiert.

Dieses Bild von „Osch“ kommt ganz ohne Bandtechnik aus, beinhaltet dafür aber umso mehr Kritik am aktuellen politischen Weltgeschehen.

Wir hätten noch viele Stunden durch die Stadt laufen können auf der Suche nach weiteren bunten Häuserfassaden oder Hinterhöfen. Wer braucht schon das „Tate Modern“? Das größte Kunstmuseum Londons ist die Stadt selbst.


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