LONDON – Warum der Nullmeridian nicht auf der Länge Null liegt …
Wie ich euch schon berichtete, wechselten wir uns während unseres Londonaufenthaltes mit den für diese Jahreszeit üblichen Erkältungssymptomen ab. Nach unserem Sherlock-Holmes-Tag, den Maja (14) bereits auslassen musste, war nun ich an der Reihe. Bereits beim Essen hatten mich Kopfschmerzen und ein unnatürliches Temperaturempfinden geplagt. Also legte ich mich mit einer gewissen Gliederschwere und dröhnendem Schädel schon am Nachmittag ins Bett. Siebzehn Stunden Schlaf später fühlte ich mich wie neu geboren und war wieder voller Tatendrang.
Eine heillos überfüllte U-Bahn brachte uns nach Canary Wharf, wo wir in die DLR („Docklands Light Railway“) umstiegen.
In „Island Gardens“ brauchte es nicht lange, bis wir den kleinen Rundbau mit dem auffälligen Kuppeldach ausfindig machten, der den Eingangsschacht zum „foot tunnel“ beherbergt, einem 370 m langen Fußgängertunnel, der unter der Themse hindurch nach Greenwich führt.
Der Greenwich-Fußgängertunnel existiert nunmehr schon seit über 120 Jahren. Als er in Auftrag gegeben worden war, sollte er eine teure und zeitweise unzuverlässige Fähre ersetzen und den Dockarbeitern, die südlich der Themse lebten, eine einfache Möglichkeit bieten, zu ihren Arbeitsplätzen in den nördlichen Docks zu gelangen.
Die von diversen Schildern und Bodenmarkierungen prangenden „keep left“- und „no cycling“-Regeln im Tunnel wurden von den Passanten genauso stiefmütterlich behandelt wie rote Fußgängerampeln im Londoner Stadtgebiet. Man nahm sie bestenfalls als wohlgemeinte Empfehlungen wahr.
Als wir am Südufer der Themse wieder das Tageslicht erblickten, ragte vor uns der Tee- und Wollklipper „Cutty Sark“, eines der schnellsten Segelschiffe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf. Wir spazierten daran vorbei – nicht ohne uns eine Besichtigung für die nächste Londonreise vorzumerken – und bewegten uns in Richtung „Greenwich Park“.
Ziel war ein Besuch des ehemaligen Arbeitsplatzes des königlichen Hofastronomen samt jener Linie, an der die östliche Hemisphäre unseres Erdballs auf die westliche trifft. Marschiert man den Hügel zum „Old Royal Observatory“ hinauf, wird man mit einem beeindruckenden Blick auf „Canary Wharf“ und das „National Maritime Museum“ belohnt.
Linus (10) hatte mich regelrecht angefleht, Haselnüsse für die in den Londoner Parks allgegenwärtigen Grauhörnchen zu organisieren. Wohl wegen meiner ungenügenden Ortskenntnisse musste ich dafür wahrlich tief in die Tasche greifen. Die Luxuspackung ungesalzener Biohaselnüsse kostete mich beim örtlichen Nahversorger in Greenwich satte £ 6,49.
Schon im Außenbereich des königlichen Observatoriums erwartete uns ein ganz besonderes Ausstellungsstück, „the dolphin dial“, eine aus zwei Bronzedelfinen bestehende Sonnenuhr. Die Schatten der beinahe zusammentreffenden Fluken zeigen auf dem Ziffernblatt die Uhrzeit an.
Das „Flamsteed House“, der ursprüngliche Teil des Observatoriums, ist weithin durch eine leuchtend rote Kugel auf dem Dach zu erkennen. Dass es sich dabei um den „Time Ball“, eines der ältesten öffentlichen Zeitsignale der Welt, handelt, war mir vor Ort gar nicht bewusst. Er zeigt den Londonern seit dem Jahr 1833 verlässlich die Zeit an, indem er jeden Tag pünktlich um ein Uhr nachmittags am Masten nach unten fällt. Wären wir nicht damit beschäftigt gewesen, im angrenzenden Park Grauhörnchen mit Luxushaselnüssen zu füttern, so hätten wir diesen Moment live und in Farbe beobachten können 😉
Im Innenhof des „Old Royal Observatory“, dem „Meridian Courtyard“, verläuft ein in den gepflasterten Boden eingelassener Metallstreifen, der wohl in jedem Geografiebuch der Welt Erwähnung findet. Er markiert den wichtigsten Längengrad der Welt: den Nullmeridian. Von dieser Linie aus werden alle anderen Längenlinien der Welt und damit auch die Zeitzonen abgeleitet.
Nur: So ganz stimmt das eigentlich gar nicht (mehr). Denn moderne Navigationssysteme (zB GPS) basieren auf dem Internationalen Referenzmedian (IRM), der 102 m östlich des berühmten Greenwich-Meridians verläuft. „Falsch“ ist dabei nichts, denn es gibt ja keinen durch die Natur vorgegebenen richtigen Punkt, durch den die Länge Null hindurchlaufen müsste, vielmehr einigte man sich einfach auf einen. Wer sich mit der Thematik näher beschäftigen will, dem sei dieser Bericht eines Mitglieds der „Wiener Arbeitsgemeinschaft für Astronomie“ ans Herz gelegt.
Heute befinden sich im „Royal Observatory“ Ausstellungen zu den Themenbereichen „Astronomie“, „Navigation“ und „Zeitmessung“.
Zum Abschluss unseres Museumsrundgangs kletterten wir noch die steilen Stufen in die „Zwiebelkuppel“ hoch, die das größte Linsenteleskop des Vereinigten Königreichs, einen Refraktor mit ganzen 28 Zoll Öffnung, beherbergt.
Nachdem wir am Greenwich-Market unseren Hunger mit großartigen veganen Hotdogs gestillt hatten, …
setzten wir uns in den Bus und fuhren zur „North Greenwich Station“. Von dort aus sollte der Tag enden wie er begann: mit einer ungewöhnlichen Überquerung der Themse.