FreiGeist

Langhalshühner

Ich erinnere mich an eine kurze Anekdote, so geschehen im Foyer eines städtischen Kindergartens vor über zehn Jahren: Es war Mittag. Reges Treiben herrschte gerade. Viele Kinder wurden von ihren Müttern, Vätern, Omas oder Freunden abgeholt, während andere noch keinerlei Anstalten machten, sich für den Heimweg fertig zu machen. Ein kleines Mädchen, das offenbar länger blieb, brachte der Gruppenleiterin ein ausgemaltes Bild in die Garderobe, steckte es ihr fröhlich unter die Nase und rief: „Fertig!“. „Du hast aber leider die Wiese falsch angemalt. Das Gras darf nicht blau, sondern muss grün sein“, meinte die Kindergärtnerin ernsten Blickes und gab ihr das Bild zurück. Ich habe die Szene damals nicht weiterverfolgt, doch blieb sie mir im Gedächtnis. Die Gute hat wohl noch nie etwas vom „Blauschwingelgras“ oder vom „Moor-Kopfgras“ gehört, beides Gräser mit eindeutig bläulicher Färbung. Und selbst, wenn es tatsächlich kein blaues Gras gäbe, so obliegt es doch dem Künstler, vom Realismus abzuweichen und – beispielsweise im Sinn des Impressionismus – seiner Stimmung über Farben Ausdruck zu verleihen. Ich stelle mir eine blaue Wiese unsagbar erfrischend vor.

Wenn unsere Kinder unkonventionelle Wege gehen und Neues ausprobieren, freue ich mich in erster Linie über ihren Einfallsreichtum. Bei unserem Drittgeborenen blitzt dabei nicht selten der kleine Schalk hervor, was mitunter zwar auch herausfordernd sein kann, in aller Regel aber von seinem gesamten Umfeld inklusive uns Eltern wohlwollend mit einem Zwinkern quittiert wird.

Als wir in der Karwoche ein weiteres Hühner-Kunstprojekt starteten – vom „Hühner-Konvoi“ hatte ich ja bereits berichtet – ahnte ich noch nicht, dass Linus‘ Kopf wieder einmal voller Schabernack war. Wir hatten beim Stöbern auf Pinterest ein Bild entdeckt, das für witzig und nachahmenswert befunden wurde.

Wie so oft wurden dafür die Temperafarben hervorgekramt, die die Kinder einfach lieben und die wir daher in unglaublichen Mengen verbrauchen. Dieses Mal stellte ich jedoch keine Pinsel, sondern Spachteln bereit.

Die ursprüngliche Idee war, für jeweils ein „Langhalshuhn“ nur einen Farbklecks aufzutupfen und danach mithilfe einer Spachtel in einem einzigen Schwung den Hals zu malen.

Die Sache mit dem Spachteln von Farbe war aber für Linus (11) gar nicht so einfach umzusetzen wie gedacht.

Er experimentierte, probierte unterschiedliche Techniken aus und entschied sich am Ende des Tages dafür, Hals und Kopf in zwei Schritten zu Papier zu bringen. Zwischen die „Langhalshühner“ schlich sich außerdem ein besonders kleines Federvieh mit auffallend kurzem Hals.

Wir ließen alles erst einmal ordentlich trocknen, denn weitergearbeitet wurde mit Permanentmarkern bzw. unserem weißen Posca-Stift, mit dem wir auch schon Kastanien bemalt hatten.

Am einfachsten wären ja die gezeigten schlafenden Hühner umzusetzen gewesen: Schnabel, geschlossene Augen mit oder ohne Wimpern und ein roter Kamm – fertig! Linus hatte aber Anderes vor und ließ die Beobachter dabei vorerst im Unklaren. „Einfach abwarten“, meinte er grinsend.

„Einbrecher-Huhn mit Schnurrbart“
„Verwirrtes Huhn mit Irokesen-Kamm“
Das „schmerzerfüllte Huhn“ hatte sich den Kopf an der Blattoberkante gestoßen und sah nun Sterne.
Hinzu kamen noch „Zylinder-Huhn mit Monokel“, „Musik-Huhn mit Kopfhörern“, „Super-Mario-Huhn“, „hungriges Huhn mit Regenwurm-Häppchen“, eine Beule auf dem „schmerzerfüllten Huhn“, „verliebtes Küken“, „König Huhn“ und „Künstler-Huhn“.

„So, fertig! Was sagst du, Mama? Ist doch besser als nur langweilige, schlafende Hühner, findest du nicht auch? Beim nächsten Mal male ich dann lauter schwarze Hühner.“

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