LONDON – Soho, Schmelztiegel der Exzentriker
Soho zu beschreiben ist eine Aufgabe für sich. Stellt euch ein Stadtviertel vor, das sich seit Jahrzehnten vor allem durch Veränderung auszeichnet, in dem sich Geschäfte und Restaurants immer wieder neu erfinden, in dem musikalische, modische und politische Außenseiter aufeinandertreffen und in dem man sich nie sicher sein kann, ob man hinter der nächsten Tür einen Raum mit Lustern oder Rotlicht vorfinden wird. Wir wagten einen Streifzug durch diesen pulsierenden Teil Londons und begannen ihn recht zeitig am Morgen an der markanten Kreuzung „Seven Dials“ mit einem „English Breakfast“ für Vegetarier in „The Breakfast Club“.
Genauer gesagt, wagte nur ich mich über diese typische Art des Frühstücks, während sich die Kinder in „sicheren Gewässern“ bewegten und Pancakes bestellten. Vegane Würstchen auf Pilzbasis, Kartoffelwürfel, geröstete Kirschtomaten, sautierter Blattspinat, Pilze („Portobello mushrooms“), Rührei, Bohnen in scharf-würziger Tomatensauce und Toastbrot mit Butter kamen auf den Teller, womit ich mich extrem nah am Original bewegte („Black pudding“ ist in meinen Augen ohnehin für alle Menschen verzichtbar, oder kennt ihr irgendjemanden, der Geschmack an „Blutwurst“ oder auch nur einer vegetarischen Imitation hat?)
Nach einem dermaßen üppigen Frühstück wäre es natürlich angebracht gewesen, die zugeführten Kalorien wieder runter zu trainieren. Ich überlasse es eurer fantasiereichen Vorstellung und verrate nicht, ob wir den Weg zu „Neal’s Yard“ in Monty Pythons „Mr. Teabag“-Gang oder normalen Schrittes zurücklegten.
Kategorie „unnötiges Wissen“: War euch bekannt, dass einer Studie zufolge, die im British Medical Journal veröffentlicht wurde, bei diesem speziellen „silly walk“ nach den Ideen von „Monty Python“ 2,5 Mal so viel Energie verbraucht wird wie das bei einem ganz normalen Spaziergang der Fall ist? Das „Ministerium für alberne Gangarten“ ist der Python’schen Feder bereits vor dem Ankauf der Studioräume in „Neal’s Yard“ entsprungen. Hier geschnitten wurde aber der weltweit bekannte Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“ mit dem noch bekannteren Schlusslied „Always look on the bright side of life“.
Soho muss in den 60er, 70er und 80er Jahren über einen ganz speziellen musikalischen Geist verfügt haben. Die „Rollin‘ Stones“ gaben im „Marquee Club“ ihr allererstes Konzert und nahmen ihr Debutalbum im „Regent Sounds Studio“ auf.
„The Who“ zerstörten in Sohos rauchigen Kellerclubs ihre ersten Gitarren und die Beatles nahmen das Lied „Hey Jude“ in den „Trident Studios“ auf.
Wer hier auf der Suche nach Musik der letzten Jahrzehnte ist, wird bestimmt in einem der zahlreichen unabhängigen Plattenläden fündig, die größtenteils gebrauchte Schallplatten verkaufen.
Im „Soho Square“ nahmen die beiden Großen und meine Wenigkeit Platz auf just jener Bank, die Kirsty MacColl gewidmet worden war, einer Sängerin der 80er Jahre, die bei einem Tauchgang in Mexiko von einem Motorboot tödlich erfasst wurde, nachdem sie ihren damals 15jährigen Sohn gerade noch rechtzeitig aus der Schusslinie bringen konnte.
„One day you’ll be waiting there
No empty bench in Soho Square …“
(aus dem Lied „Soho Square“ von Kirsty MacColl)
Linus (10) tobte sich indessen aus. Er hatte einen unbändigen Bewegungsdrang und konnte ihn in der geschäftigen Stadt einfach nicht ausreichend stillen. Das „Marktkreuz“ im Tudor-Stil in der Mitte des „Soho Square“ ist nicht so alt, wie es einen glauben lässt. Es wurde erst 1926 errichtet, um die nicht sonderlich ansehnlichen Elemente eines modernen Umspannwerks hinter einer schönen Fassade zu verbergen. Heute beherbergt es Gartengeräte für die Reinigung und Instandhaltung des Parks.
Es überrascht nicht, dass gerade in einem so quirligen Viertel voller Nonkonformisten die anwachsende „Big-Brother-Kultur“ der späten 90er-Jahre, die sich in der steigenden Anzahl von Überwachungskameras widerspiegelte, besonders schlecht ankam. Heute wird London stärker überwacht als Peking. Auf die beinahe 9,5 Millionen Einwohner der Stadt kommen mittlerweile etwa 942.000 Kameras. Privatsphäre hat man hier also wahrlich nicht mehr. Verkauft wird der Überwachungswahn natürlich mit „erhöhter Sicherheit“. Im Kriminalitätsindex zeichnet sich ein entsprechender Erfolg allerdings nicht ab. Im Gegenteil, die Kriminalitätsrate in London weist eine steigende Tendenz auf.
Der Künstler Rick Buckley installierte im Jahr 1997 an unterschiedlichsten Orten Londons Gipsabdrücke seiner eigenen Nase, um gegen die Entwicklung vermehrter Überwachung im öffentlichen Raum aufzubegehren. Lange blieb unbekannt, wer der Schöpfer der Protest-Riechkolben war. Heute sind auch nur noch wenige zu finden, bis auf eine jedoch alle im Stadtteil Soho.
Die Gedanken wurden mir leichter, als wir die „Carnaby Street“ betraten, jene Straße, die durch Modedesigner der „Swinging Sixties“ Bekanntheit erlangte. Sofort hatte ich die Melodie des gleichlautenden Liedes im Kopf, das meine Mutter während des Bügelns von Kassette auf und ab spielte, als ich noch ein kleines Mädchen war.
Und dennoch konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass sich ganz Soho im Dornröschenschlaf befindet, seine Restenergie aus längst vergangenen Jahrzehnten bezieht und sich Neues erst wieder in verruchten Hinterstübchen bilden muss. Es ist ein bisschen so, als seien die Menschen hier gerade dabei, sich wieder einmal neu erfinden zu wollen, ohne zu wissen, wohin die Reise dieses Mal gehen wird.