FreiBrief

Weißes Haar und knittrige Haut

„Mama, die Oma war ja immer so viel in der Kirche und hat gebetet. Weißt du, ich hoffe, sie hat bis zum Schluss an das glauben können, was sie sich für die Zeit nach dem Tod vorgestellt hat“, meinte meine 12-jährige Tochter am Samstagabend zu mir, nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Großmutter diese Welt verlassen hatte – genau während unserer Wienreise. In ihrer Hand lag ein Bild von Oma, mit Buntstiften fein säuberlich gezeichnet, das sie eben so darstellte, wie sie beim letzten Besuch im Krankenhaus ausgesehen hatte. Unser dreijähriger Zwerg hüpfte – naturgemäß von der traurigen Stimmung im Raum größtenteils unbehelligt – umher und übte seinen neuen Wortschatz: „Assaaa-Auto … Feujajaaaaa!“ (Wasserauto … Feuerwehr). Linus (9) betrachtete seinen kleinen Bruder und fing an zu weinen. „Wie erklären wir das denn jetzt Merlin? Der lernt seine Oma gar nicht richtig kennen!“, war seine größte Sorge. Unser ältester Sohn (15) mimte den Tapferen und drehte sich weg, aber ich sah, wie er gegen die Tränen ankämpfte. Im weiteren Verlauf des Abends kümmerte er sich liebevoll um seine kleinen Geschwister, legte seinen Arm um sie und hatte damit eine Aufgabe gefunden, die ihn davon abhielt, seine Trauer nach außen hin zu zeigen.

Stürmischer Wintertag in Wien (nahe dem Schweizergarten)

Der Tod ist in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabu. Leider.

Ich bin immer wieder bewegt von den tiefgründigen Gedanken, die Kinder schon in jungen Jahren imstande sind zu reflektieren und zu kommunizieren. In ihnen liegt so viel Wahrheit und gerade die unbefangene Naivität, die oftmals in den gewählten Worten liegt, unterstreicht sie einmal mehr.

Schloss Belvedere

Vor gar nicht allzu langer Zeit erzählte ich Maja (12) vom Totenkult der indonesischen Toraja, wo die Verstorbenen einbalsamiert oft noch jahrelang im Kreise ihrer Liebsten in einem geschmückten Hinterzimmer bleiben, bis das Begräbniszeremoniell vollzogen ist. Hier gibt es keinerlei Berührungsängste mit den irdischen Resten der Ahnen. In unserem Kulturkreis ist schon das Altern per se verpönt. Durch die Anwendung von Faltencremes und Haarfärbemitteln, durch Fettabsaugungen und Straffungen sollen die Zeichen der Vergänglichkeit – eigentlich Symbole innerer Weisheit und reicher Lebenserfahrung – durch nichts Anderes als eine Maske kaschiert werden, die dennoch immer nur als Fassade wahrgenommen werden und echter Jugend – trotz aller Bemühungen – niemals das Wasser reichen kann. Wird damit das Alter nicht seiner Würde beraubt? Stehlen wir damit nicht auch der Jugend in gewisser Art und Weise ihre Perspektiven? Entmündigen wir uns damit nicht vollends selbst?

Blätter im eisigen Wind (vor dem Botanischen Garten in Wien, dessen Tore wegen des Sturms geschlossen blieben)

Die Europäer sind Weltmeister darin, das Thema „Sterben“ möglichst zu verdrängen und den Kindern tunlichst zu verheimlichen. Um keine Ausrede sind sie verlegen, um den Tod und alles, was damit zusammenhängt, weit von sich zu halten. Vermeintliche Traumata der Vergangenheit werden dann bemüht oder mögliche Traumata der Zukunft heraufbeschworen, damit man sich nur ja nicht auseinandersetzen muss mit dem, was ohnedies unvermeidlich ist.

Mittlerweile wieder aus Wien zurückgekehrt nahmen wir heute die Kinder ganz selbstverständlich zur offenen Aufbahrung ihrer Oma mit. Die drei Großen (9, 12 und 15) hatten vor fünf Jahren bereits ihren kleinen Bruder so gesehen: friedlich, aller Schmerzen befreit und ganz nah. Es ist ein Geschenk, wenn sie noch einmal die Gelegenheit erhalten, einen geliebten Menschen ein letztes Mal zu berühren oder ihm ein persönliches Andenken mitzugeben. Und wenn in der Zeremonienhalle ein absolut unbeschwertes dreijähriges Kind wie unser Merlin fröhlich und leicht zwischen den Trauernden herumtrippelt, voller Inbrunst immer und immer wieder „rrrrrothe Feujajaa-Esla“ (roter Feuerlöscher) sagt und jedem weinenden Anwesenden ein Taschentuch schenkt, dann weiß ich, dass die Oma – lebte sie noch – gelächelt hätte.

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