FreiGeist

In einem Garten in Ferney …

„Ma très chère amie, je me promène dans mon jardin de Ferney, où les fleurs du printemps
commencent à montrer leur éclat. Les muguets, avec leur humble douceur,
me font oublier les querelles des hommes et les vanités de Paris. Ces petites
clochettes blanches ont plus de philosophie que nos docteurs, car elles se contentent
d’être et de parfumer l’air.“

„Meine sehr liebe Freundin, ich spaziere durch meinen Garten in Ferney, wo die Frühlingsblumen beginnen, ihre Pracht zu zeigen. Die Maiglöckchen, mit ihrer bescheidenen Sanftheit, lassen mich die Streitereien der Menschen und die Oberflächlichkeiten von Paris vergessen. In diesen kleinen weißen Glöckchen steckt mehr Philosophie als in unseren Gelehrten, denn sie begnügen sich damit, zu sein und die Luft mit ihrem Duft zu erfüllen.“
(Auszug aus Voltaires Briefen an die Marquise du Deffand in den 1760er Jahren)

Für mich ist das Maiglöckchen eine der bezauberndsten Frühlingsblumen und steckt dabei voller Widersprüche. Während es im Mittelalter als Heilmittel galt und zur Stärkung schwacher Herzen verwendet wurde, barg es seit jeher ein Gift, das durchaus in der Lage war, dem neu erstarkten Herzen tödlichen Stillstand zu bringen. Es ist ein Sinnbild der Reinheit, der Unschuld und des Neubeginns und wurde doch – als „Tränen der Maria“ – zum Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens. Selbst sein Gedeihen ist ein Akt der Balance und verlangt nach dem sanften Zwielicht des Waldes. Sowohl zu viel Licht als auch zu viel Schatten lassen es verwelken.

Linus‘ Laune war zu Beginn des Kunstprojekts genauso widersprüchlich wie das Maiglöckchen selbst. Einerseits freute er sich auf die kreative Arbeit, andererseits war das Sticken eines Rahmens für ihn ein Dorn im Auge: viel zu viel Faden, viel zu viel Mühe. Er murrte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und war drauf und dran, den Tag doch mit etwas Anderem zu verbringen.

Die Retterin der Stunde war seine ältere Schwester, die große Lust hatte, beim Projekt mitzumachen und voller Eifer Material zusammenkramte. Gemeinsam – so stellte sich heraus – machte es gleich viel mehr Freude. Sie quatschten und kicherten und merkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging.

Langettenstich

Die Blätter des Maiglöckchens schnitt Linus (11) frei Schnauze aus Filz aus …

… und nähte sie mit einfachen Vor- und Rückstichen beziehungsweise einer wilden Kombination von beiden fest.

Da wir für zwei Maiglöckchen nicht genügend weiße Holzperlen zu Hause hatten, entschlossen sich die beiden dazu, stattdessen kleine, flauschige Pompons aufzunähen.

Zu guter Letzt stickte Linus sogar noch seine Initialen auf und war sichtlich stolz, als er mir sein fertiges Projekt präsentierte.

Und um wieder mit dem wohl größten Aufklärer aller Zeiten abzuschließen: „Il faut cultiver notre jardin.“ – „Wir müssen unseren Garten pflegen“. Vielleicht liegt die wahre Magie des Frühlings – und des Lebens – in Voltaires Sinne genau darin: aus kleinen Mühen und Momenten der Gemeinschaft etwas zu schaffen, das stolz macht und bleibt.

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