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LONDON – Teatime

Stellt euch ein prunkvolles viktorianisches Herrenhaus aus roten Backsteinen, weiß gestrichenen Erkerfenstern und Schieferdächern vor, einen steifen Butler in schwarzer, förmlicher Uniform und weißen Handschuhen und einen Kreis schnatternder Frauen in eng geschnürten Korsetts und ausladenden Kleidern, wie sie dampfenden Earl Grey mit etwas Milch und Zucker zu sich nahmen und währenddessen den neuesten Klatsch aus der oberen Mittelschicht austauschten. Ist das nicht auch für euch britische Tradition in Reinkultur? Was mir lange nicht klar war, ist, dass die Gepflogenheit des „afternoon tea“ respektive des „five-o-clock-tea“ in Wahrheit vergleichsweise jung ist.

Anna Russel, der siebenten Herzogin von Bedford und Hofdame der Königin Victoria, ist die britischste der britischen Traditionen zuzuschreiben. Ihr war der zeitliche Abstand zwischen dem Mittagessen und dem modisch spät gegen acht Uhr servierten Abendessen zu groß, sodass ihr in aller Regel bereits gegen vier Uhr der Magen zu knurren begann. Die Herzogin bat daher regelmäßig um ein Tablett mit Tee, Brot und Butter sowie Kuchen am späten Nachmittag. Im Laufe der Zeit fing sie an, Freunde zu diesem Ritual nach Woburn Alley einzuladen, woraufhin sich diese häusliche Tradition in der Oberschicht bis hin zur Königin selbst durchsprach und etablierte.

Heutzutage besteht der typische Londoner Afternoon-Tea aus einer reichen Auswahl an Sandwiches, Kuchen, Scones mit Clotted Cream und Marmelade – alles vornehmlich auf einer Etagère serviert – sowie selbstredend einer Kanne Tee.

Für mich stand bereits zu Beginn der Reiseplanungen fest, dass so ein Afternoon-Tea nach guter „alter“ englischer Art fester Bestandteil unserer Reise sein würde. Nach einigen Recherchen hatte ich mich dazu entschieden, einen Tisch in „The Wolseley“ zu reservieren.

Linus (10) sucht nach der Adresse 160 Piccadilly


„Wolseley Motors Limited“ war ein britischer Automobilhersteller großer Luxuswägen, gegründet im Jahr 1901. Der englische Architekt William Curtis Green wurde 1921 mit dem Entwurf für den Bau eines prestigeträchtigen Autosalons an der Adresse 160 Piccadilly in London beauftragt. Durch zu schnelle und zu große Expansion ging das Unternehmen allerdings wenige Jahre nach der Eröffnung des Autosalons in Konkurs, woraufhin das Gebäude von der Barclays Bank aufgekauft und der Umbau veranlasst wurde. Die Bank nutzte den Bau bis 1999 für eigene Zwecke, 2003 wechselte es erneut den Besitzer und wurde nach aufwändigen Renovierungsarbeiten als „The Wolseley“ wiedereröffnet.

Das preisgekrönte Café ist schon optisch allein eine wahre Augenweide. Die von dorischen Säulen getragenen Kuppeln und der Boden aus schwarzem und weißem Marmor harmonieren mit dem schwarz-goldenen Mobiliar. In meinem ganzen bisherigen Leben erlebte ich nirgendwo sonst ein vergleichbares Verhältnis von Kellnern zu Gästen. Gefühlt schwirrten 25 bis 30 Mitarbeiter der Servicebrigade herum und lasen einem jeden Wunsch von den Lippen.

Dabei gehörte der Afternoon-Tea in „The Wolseley“ noch nicht einmal zu den teuersten der Stadt, gleichwohl wir dennoch zu viert £ 160,00 für drei Stockwerke voller Köstlichkeiten, drei Kannen Tee sowie eine Flasche stilles Mineralwasser bezahlten. Für derlei Luxus muss man ganz schön lange arbeiten, aber wie sagt man so schön: „Wos kost’ die Wölt?“

Volle Konzentration, Laurin, volle Konzentration! Nicht kleckern, nicht schmatzen, nicht mit den Geschwistern streiten, wer jetzt was nehmen darf und zuerst die Milch und dann den Tee in die Tasse schütten – oder doch umgekehrt? Hoffentlich spricht mich kein Kellner an!“


Die Funktionsweise des Teesiebs („revolving tea strainer“) war uns nicht von vornherein klar und man merkte den Jungs (10 und 17) irgendwie an, dass sie gehemmt waren, die technischen Details in üblicher Manier herauszufinden. (Übliche Manier bedeutet: Sie reißen sich die unbekannte Mechanik abwechselnd aus den Händen, werfen sich gegenseitig vor, dass der jeweils andere sowieso keine Ahnung habe, drehen und wenden alles zig Mal herum, lassen es – natürlich unabsichtlich – auf den Boden fallen oder versuchen, es mit allerlei Hilfsmitteln auseinanderzubauen). Ich nahm das Teesieb also vorsichtshalber schnell an mich und gab den entscheidenden Hinweis. Maja (14) hatte den Dreh im wahrsten Sinn des Wortes sofort heraußen.

Aber auch die Burschen hielten sich sehr wacker und bemühten sich nach Leibeskräften, den Anstand zu wahren und eine gewisse Art selbst auferlegter Etikette einzuhalten, was ihnen tatsächlich hervorragend gelang. Sie betraten „The Wolseley“ gewissermaßen als „Jungen vom Lande“ und verließen es als „Londoner Gentlemen“.

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