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NIEDERÖSTERREICH – „Die Welt ist ein Buch.“ …

… „Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon“, soll Augustinus Aurelius, Dozent der „Kunst der schönen Rede“, im 4. Jahrhundert nach Christus gesagt haben. Wie glücklich dürfen dann Reisende sein, die in Begleitung eines Menschen sind, der eine verborgene Seite dieses Buches zu öffnen imstande ist?

Unsere kurze Bildungsreise nach Wien begann mit einem wundervollen Wiedersehen mit zwei tollen Menschen, die wir während der Coronajahre kennenlernen durften – Helga und Erwin – sowie ihrem neuen Familienmitglied „Buddy“, einem vifen Border Collie mit schneller Auffassungsgabe, wenn es um das Beschaffen von „Leckerlis“ geht. Während draußen ein starker, eisiger Wind wehte, wurden wir in der charmanten Altbauwohnung mit selbst gekochtem Bohnengulasch und anschließendem Kuchen verwöhnt und verloren uns in großartigen Gesprächen über Gott und die Welt.

Am Abend – kaum zurückgekehrt in unserer Herberge, einer Villa in Gaaden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom k.u.k.-Hofbaumeister Johann Stubner errichtet worden war – erfuhren wir, dass die Mutter meines Mannes, meine Schwiegermama und Oma unserer Kinder, nach kurzer, schwerer Krebserkrankung verstorben war https://belinda.amplatz.today/freibrief/weisses-haar-und-knittrige-haut/

Für den nächsten Tag hatten wir uns ohnedies einen Spaziergang mit Helga und Erwin vorgenommen, schmerzende Knie „halbierten“ aber bedauerlicherweise unser Geleit und Helga blieb mit Laurin und Linus – die ihrerseits nichts Anderes plagte als ihre eigene Bequemlichkeit – in unserer Unterkunft.

Maja (12) und Laurin (15) beim Rangeln in der Villa

Im Konvoi mit Erwin und seinem „Partner mit der kalten Schnauze“ fuhren wir nur ein kleines Stück mit dem Auto zum Parkplatz nahe der Burg Liechtenstein. Von da aus wollte er uns jene Gegend zeigen, in der er aufgewachsen war.

Wir befanden uns auf einer Erhebung am Ostrand des Wienerwaldes, die landläufig „Kalenderberg“ genannt wird, möglicherweise ursprünglich aber „Kahlländerberg“ hieß. Fürst Johann I. Joseph von und zu Liechtenstein (1760 – 1836) war als Landschaftsgestalter bedeutend für seine Zeit, ließ den Berg aufforsten und einen romantischen, englischen Landschaftsgarten anlegen, was auch die Errichtung mehrere künstlicher Ruinen mit einschloss. Doch davon war weit und breit noch nichts zu sehen.

Erwin erzählte uns zu Beginn des Weges von den örtlichen Gipsvorkommen und der „Seegrotte“, einem unterirdischen See, der nach einem gigantischen Wassereinbruch des Jahres 1912 in den Stollen durch eine Sprengung entstanden war und dem Gipsabbau ein jähes Ende setzte. Nachdem im Zweiten Weltkrieg die Grotte von der deutschen Wehrmacht in Beschlag genommen und trockengelegt worden war, errichteten die „Heinkel-Werke“ eine unterirdische Rüstungsfabrik mit dem Decknamen „Languste“ in der Seegrotte.

Der Kalenderberg war aber schon viel früher für den Menschen von Interesse. Ohne unseren ortskundigen Begleiter hätten wir den bronzezeitlichen Wall niemals als solchen erkannt, sondern wären mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unachtsam schnatternd an ihm vorbeimarschiert. In West-Ost-Richtung verlaufend und eine natürliche Geländekante nutzend erstreckt(e) sich der Wall über mehr als 500 m und sicherte die damalige Höhensiedlung nach Süden hin ab. Heute hat sich die Natur die von Menschenhand erschaffene Schutzanlage weitestgehend zurückgeholt und niemand „bewacht“ mehr den Zugang zur „Turnerwiese“, wie sie heute genannt wird.

Schwarzföhren auf der Turnerwiese

Das Wetter schlug regelrecht Kapriolen. Wind, Wolken, Sonne und Graupel wechselten einander ab.

Graupel

Hinter einem weißen Schleier aus Schneegriesel konnten wir nur mit Mühe den Turm der „Burg Mödling“ in der Ferne erkennen. Vorbei an den Überresten der als „Pfefferbüchsel“ bekannten Pilgerkapelle, von der heute nur noch Ruinen zu sehen sind, …

„Pfefferbüchsel“

… gelangten wir an den nächsten Aussichtspunkt. Erwin wies uns auf eine weitere künstliche Ruine, den „Schwarzen Turm“ sowie auf das Aquädukt Mödling hin, das im Jahr 1873 als Kaiser-Franz-Josephs-Wasserleitung eröffnet worden war und bis heute die Stadt Wien mit Trinkwasser vom Schneeberg und der Rax versorgt.

Erwins Erzählungen von imposanten Hirschkämpfen und durch das Gehölz preschenden Kutschen („Das Geheimnis der eisernen Maske“, Verfilmung 1979) zeichneten ein schönes Bild seiner Kindheit in diesen Wäldern und ließen uns die Zeit wie im Flug vergehen.

Als sich zwischen den winterlich kahlen Bäumen das „Amphitheater“ erhob und ein flauschiges Eichhörnchen die steinigen Ruinen flink emporkletterte, war der romantische Höhepunkt unserer kleinen Wanderung erreicht. Fürst Johann I. von und zu Liechtenstein hatte ganze Arbeit geleistet, als er diese Aussichtswarte nach dem Vorbild des römischen Kolosseums erbauen ließ.

Hier liegt die Muse tatsächlich in der Luft, und die Poesie ist zum Greifen nah. Wer weiß? Unter Umständen sitze ich beim nächsten Mal das eine oder andere Stündchen auf einer der geschickt positionierten Steinbänke und genieße die Schönheit des Seins.

Maja (12) beim Probesitzen auf einer der romantischen Steinbänke am Kalenderberg

Mit einem letzten, kurzen Blick auf „Burg Liechtenstein“ beschlossen wir unseren Rundgang und verabschiedeten dankbar unseren Freund und „Reiseführer“, der uns auf lebendige Art und Weise in die Vergangenheit entführte.

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