LONDON – Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!
Maja (14) hätte es nach unserem Spaziergang auf Shakespeares Pfaden in London wohl Richard III. gleich getan und ihre größten Schätze für einen fahrbaren (oder reitbaren) Untersatz geboten. Immerhin sind wir beinahe 14 Kilometer durch die Stadt gewandert. Davon legte sie – ungelogen sehr schick in ihren Schnürstiefeletten mit Absatz – sicher zehn zurück ohne zu jammern. Irgendwann aber schlug ihre Stimmung schlagartig um. Von diesem Moment an wurde der Rest der Welt – allen voran meine Wenigkeit, da ich die Route ja zusammengestellt hatte – für ihr Dilemma verantwortlich gemacht und entsprechend angefaucht. In meiner Jugend sagte man ja nur: „Wer schön sein will, muss leiden.“ Es ist mir unerklärlich, warum sich das nicht bis in die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts durchgesprochen hat.
Doch nun alles schön der Reihe nach. Der erste Tag unseres London-Aufenthalts war der englischen Literatur gewidmet. Für die englische Sprache war in der gesamten Geschichte der Menschheit wohl niemand so prägend wie William Shakespeare.
Wir begaben uns daher auf die Suche nach den Wirkungsorten jenes herausragenden Schriftstellers und begannen diese am „Cockpit Pub“. Dessen Name war in seiner Gründungszeit im 18. Jahrhundert wohl Programm: Zur Belustigung der Zuschauer ließ man rivalisierende Hähne gegeneinander antreten. Noch heute befindet sich über der Bar jene Galerie, auf der das Publikum stand, johlend und applaudierend ihren jeweiligen Favoriten anfeuerte und der eine oder andere „pickpocket“ Gelegenheit fand, fremde Taschen auszuräumen. Doch was soll Shakespeare damit zu tun haben? Er lebte immerhin zweihundert Jahre zuvor!
Nun, an ungefähr jener Stelle befand sich zu seiner Zeit das „Old Priory Gatehouse“, das Henry Walker – Bürger und Minnesänger von London – zum Verkauf um stolze 140 £ anbot und das von Shakespeare als neuem Eigentümer sowie drei Treuhändern erworben wurde. Das Torhaus des ehemaligen Dominikanerklosters, bekannt als „Blackfriars“, grenzte im Osten an die „King’s Wardrobe“ und im Westen an ein Grundstück, das der Witwe Anne Bacon gehörte.
Die dritte Seite des Anwesens war eine Backsteinmauer. Sehr lange wurde die Liegenschaft nach dem Kauf nicht von Shakespeare genutzt. Drei Jahre später starb er und vermachte es seiner Tochter Elizabeth, die es wiederum 1667 verkaufte.
Nur einen Steinwurf vom „Old Priory Gatehouse“ entfernt lag das „Blackfriar’s Playhouse“. Das Theater, an dem auch Shakespeare beteiligt war, verfügte über die Möglichkeit, Spezialeffekte mit Falltüren und Drähten zu erzeugen. Benutzerfreundlich war es aber vor allem wegen seiner Überdachung, wodurch es das ganze Jahr über unterhalten werden konnte, ganz im Gegenteil zum Freilufttheater „Globe“ am anderen Ufer der Themse.
Das Stadtbild Londons wurde in Shakespeares Ära von der Silhouette der alten St. Paul’s Cathedral dominiert. Sie war das Zentrum sowohl des religiösen als auch des sozialen Lebens der alten Stadt. Die Kathedrale stand ab dem Ende des 16. Jahrhunderts im Mittelpunkt des Londoner Buchhandels, und es ist wahrscheinlich, dass Shakespeare hier die Bücher aufgriff, die ihm als Quellenmaterial für seine Werke dienten. Erstausgaben von Shakespeares Stücken wurden ebenfalls hier gehandelt.
Hätten nicht Shakespeares Schauspielerkollegen Henry Condell und John Heminge eine entscheidende Rolle bei der Veröffentlichung der First-Folio-Ausgabe seiner Werke gespielt, in dem 36 seiner Stücke zusammengetragen worden waren, wäre wohl die Hälfte seiner Stücke verloren gegangen. Man vermutet, dass das „First Folio“ 750 Mal gedruckt wurde, etwa 230 Drucke existieren heute noch, fünf davon befinden sich in der „British Library“. Im „Aldermanbury Garden“ gedenkt man Condell und Heminge mit einem Denkmal, an dessen Spitze eine Büste Shakespeares prangt.
Eigentlich stammte William Shakespeare nicht aus London, sondern aus dem Städchen Stratford-upon-Avon in der englischen Grafschaft Warwickshire. Während seines Wirkens als Dichter und Schauspieler
hatte er aber unterschiedlichste Wohnungen und Häuser in London bezogen. Bevor er das Pförtnerhaus im heutigen Stadtteil Blackfriars kaufte, wohnte Shakespeare ab dem Jahr 1604 für mehrere Jahre bei
einer französischen Familie namens Mountjoys in der Silver Street.
Hier soll er höchstwahrscheinlich die Stücke „Othello“ und „King Lear“ geschrieben haben.
Wir gingen an der „London Wall“ entlang …
… und erreichten schließlich die anglikanische Kirche „St. Giles without Cripplegate“, in der Shakespeares Neffe sowie der uneheliche Sohn seines Bruders Edmund beigesetzt wurden. In der Pfarrei stand einst das „Fortune Playhouse“, ein Freilufttheater des Theaterunternehmers Philip Henslowe, der als größter Konkurrenz Shakespeares und dessen Truppe galt.
Bevor Shakespeare Untermieter der Familie Mountjoy war, dürfte er in einem heute nicht mehr existenten Gebäude in „Great St. Helen’s“ gelebt und dort das Stück „Romeo & Julia“ geschrieben haben.
Aus Steuerunterlagen des Jahres 1597 geht hervor, dass ein gewisser William Shakespeare als einer von 73 beitragspflichtigen Bewohnern der Gemeinde seine veranschlagten Steuern für Güter im Wert von 5 £
nicht entrichtet hatte. Man nimmt an, dass der berühmte Dichter in der Kirche „Great St. Helen’s“ Gottesdienste feierte.
In Shakespeares Zeitalter florierten im angrenzenden Viertel „Eastcheap“ Fleischmärkte und Tavernen. Bekannt wurde die Straße durch das Stück „Heinrich IV.“, in der das Pub „Boar’s Head“ als Stammkneipe des wohlbeleibten und oft betrunkenen alten Ritters Falstaff gezeigt wurde. Historiker nehmen an, dass das Drama sogar im echten Pub aufgeführt worden war. Heute erinnert ein steinerner Wildschweinkopf in der Mitte der neugotischen Fassade an die „Boar’s Head Tavern“, die im 16. Jahrhundert hier gestanden haben soll.
Die einzige Brücke, die zur damaligen Zeit im Stadtgebiet die Themse überquerte, war die aus massivem Stein errichtete „London Bridge“. Auf der gesamten Länge von 480 Metern befanden sich Häuser und Geschäfte, in denen überwiegend mit Goldschmiedearbeiten, Schmuck und Nadeln gehandelt wurde.
Der Londoner Stadtteil „Bankside“ südlich der Themse wurde vom Bischof von Winchester regiert, der weitaus liberaler als die „City of London“ nördlich des Flusses war.
Hier sammelten sich all jene, deren Ideen, Interessen oder Berufe sich am Rande des Gesetzes oder jenseits davon bewegten. Nicht grundlos lag hier auch das „Globe Theatre“ – außerhalb des Zugriffs der Londoner Behörden.
Das „New Globe“ ist eine orginalgetreue Nachbildung des ursprünglichen Theaters, ein Meisterwerk authentischer Zimmermannskunst. Es wurden unbehandeltes Eichenholz, mit Ziegenhaar verstärkter Kalkputz, Ziegel nach elisabethanischem Rezept und Norfolk-Schilfrohr verwendet. Die offizielle Eröffnung fand 1997 statt. Üblicherweise finden hier Aufführungen im Kerzenlicht statt.
Im 16. und 17. Jahrhundert war dieser Teil Londons nicht nur für seine Theaterangebote, sondern auch für Tavernen und Bordelle bekannt und stellte sozusagen das „Rotlichtviertel“ zu Shakespeares Zeiten dar, als Soho noch aus Feldern bestand. Warum nur mutmaße ich, dass der Bischof von Winchester nur deshalb so „liberal“ war, weil er … ach, vergesst es einfach! Tatsache ist, dass der Kirchenmann über ein eigenes, berüchtigtes Gefängnis verfügte, das sogenannte „Clink“, verrufen als einer der schlimmsten Kerker der Stadt, in dem Inhaftierte elendig verhungern und verrotten mussten.
Shakespeare selbst soll keine Bekanntschaft mit diesem Verlies gemacht haben, zumindest nicht als Häftling. Nicht alle seine Berufskollegen hatten dasselbe Glück. Und auch nicht der Vater eines weiteren berühmten englischen Schriftstellers aus einer anderen Zeit. Und in einem anderen Gefängnis. Schaut bald wieder vorbei, um mehr zu erfahren!