LONDON – Es ist höchste Eisenbahn!
Mein Mann erklärte mich für verrückt. „Du willst mit dem Zug nach London fahren? Das willst du dir wirklich antun?“ Ich setzte bildlich gesprochen meine rosarote Brille aus den 70er Jahren auf und antwortete naiv: „Klar. Warum nicht? Ich liebe Zugfahren! Und außerdem möchte ich irgendwann gerne mit dir gemeinsam zum allerersten Mal in ein Flugzeug steigen.“ Bereits im April buchte ich die Fahrkarten. Die Österreichischen Bundesbahnen (OEBB) sollten uns mit dem Nightjet im Schlafwagen zum Sparschiene-Tarif nach Stuttgart bringen. Von dort aus war die Weiterreise mit der Deutschen Bahn (DB) nach Paris und am Ende mit dem Eurostar nach London geplant.
Schon im Juni folgte die erste Ernüchterung. Es erreichte mich eine Nachricht über den Ausfall unseres Schlafwagens. Der Waggon sei defekt und könne auch nicht bis Oktober ersetzt werden. Man biete uns einen kostenlosen Wechsel auf Sitzplätze an. Vielleicht hatte mein Mann mit seiner Einschätzung ja doch Recht? Ich winkte ab und ging mit den OEBB einen Handel ein. Wir würden einen Tag eher bei Helligkeit bis nach Stuttgart fahren und dort eine Nacht im Hotel verbringen. Am nächsten Tag könnten wir dann ohne Zeitdruck wie ursprünglich geplant weiterreisen. Dafür sollten wir einen kleineren Pauschalbetrag zu den Hotelkosten erhalten.
Im Nachhinein betrachtet erwies sich diese Vorgehensweise als goldrichtig. Am Tag der Anreise rechtfertigte sich der neue deutsche Zugbegleiter schon wenige Minuten nach Überqueren der deutsch-österreichischen Grenze Richtung München: „Meineeeee sehr geehrten Damen und Herren, wegennnnnn mangelnder Zugvorbereitung in Salzbuuuuuurg ist unser Zuuuuuug fünf Minuten verspätet.“ Beim nächsten außerplanmäßigen Halt – keine Viertelstunde war seit der Abfahrt in Salzburg vergangen – konnte er diesen nicht mehr auf seine österreichischen Kollegen schieben. Der ausgefallene Zugfunk verhindere nun ein zügiges Vorankommen. Ich sah der immer größer werdenden Verspätung gelassen entgegen. Glücklicherweise warteten ja für uns gemütliche Betten in Stuttgart. Meine drei älteren Kinder drehten zwar ihre Augen über, waren sich dann aber einig, dass man somit ein authentisches DB-Fahrerlebnis gewonnen hatte.
Der Hauptbahnhof in Stuttgart war eine riesige Baustelle. Das historische Eingangsgebäude, der sogenannte „Bonatzbau“ werde gerade renoviert, erzählte uns der Taxifahrer. Das fast hundert Jahre alte und denkmalgeschützte Bauwerk erhalte ein neues Tragwerk, das die prägenden Gebäudeteile nachhaltig entlasten und sichern solle.
Obwohl wir ursprünglich in Erwägung gezogen hatten, das Mercedes-Museum in Stuttgart zu besuchen, genossen wir die bequemen Betten in der „Pension am Heusteig“ so sehr, dass wir gemeinschaftlich in einen späten Nachmittagsschlaf fielen, aus dem – mit einstündiger Unterbrechung für Zähneputzen und Pyjama-Anziehen – direkt anschließend der Nachtschlaf wurde.
Nach einem ausgiebigen Frühstück setzten wir unsere Reise alsbald fort.
Der ICE nach Paris Est hielt auf seiner Reise nur zweimal – einmal in Karlsruhe und einmal in Strasbourg.
Wir kamen pünktlich in Paris an. Es war, als lägen die üblichen Verspätungen der Deutschen Bahn nicht am Beförderungsunternehmen selbst, sondern an der „Staatsangehörigkeit“ des Gleisbetts.
Vor diesem Teil der Reise hatte ich tatsächlich am meisten Bammel. Der Eurostar fährt nicht vom Bahnhof „Paris Est“, sondern vom nahe gelegenen „Gare du Nord“ ab. Im Rahmen der Reisevorbereitungen erhielt ich nur ungenügend Auskunft darüber, ob und in welchem Ausmaß wir beim Fußmarsch von einem zum anderen Bahnhof mit Komplikationen zu rechnen hatten. Ich befürchtete ungenügende Beschilderung oder Passagen, die mit schwerem Gepäck möglicherweise nicht gut zu passieren waren und daher viel Zeit in Anspruch nehmen könnten. Eurostar selbst empfiehlt, mindestens anderthalb bis zwei Stunden vor Abfahrt einzutreffen. Ich hatte für uns zwei Stunden von der Ankunft bis zur Weiterreise eingeplant.
Im Grunde genommen musste man aber nur ein wenig die Augen offenhalten. Hilfreich war die Information, dass man die Haupthalle des „Gare de l’Est“ über den rechten Ausgang verlassen und danach die steilen Treppen des geschichsträchtigen Gebäudes hinauf marschieren musste. Wir folgten diversen Hinweisschildern und entdeckten nach nur wenigen Fußminuten im Regen die imposante Fassade des „Gare du nord“ zu unserer Linken. Betritt man die dortige Haupthalle, gestaltet sich die Angelegenheit auch viel weniger umständlich als befürchtet. Der „Union Jack“ fällt dem aufmerksamen Beobachter sofort auf.
Meine Unerfahrenheit und die Tatsache, das mich drei meiner Kinder begleiteten, trieben mir während der Gepäck- und Passkontrollen zwar den Schweiß ins Gesicht, am Ende des Tages benötigten wir aber
für das gesamte Prozedere nur ungefähr eine halbe Stunde. In der noch verbliebenen Wartezeit spielten die Kinder Tischfußball und erhielten dabei sportliche Unterstützung von einem ganzen Polizeitrupp, der wohl gerade nicht allzu viel zu tun hatte. Ich selbst führte mit einem Pärchen aus Idaho (USA) ein wenig
Smalltalk, bevor die letzte Etappe unserer Bahnfahrt begann – mit dem Eurostar durch den Eurotunnel nach London.