WIEN – Im April zum Jugendstil
Keine zwei Tage waren seit unserem sommerlichen Grillnachmittag im Bärental vergangen, als sich eine zentimeterdicke Neuschneedecke über unsere Heimatstadt und ihre blühenden Apfel- und Kirschbäume legte. „Im Ernst jetzt?“, maulte Maja (13). Es half nichts. Der April macht eben, was er will. In erster Linie bedeutete der Wetterumschwung, dass wir unsere Koffer für das geplante Wien-Wochenende umpacken mussten. Kurze Hosen raus, Winterjacken rein. Die Devise hieß unverändert Gepäck sparen.
Die Bahnstrecke war am Semmering für einige Wochen vollständig gesperrt. Zwölf Kilometer Gleise sollten neu verlegt und 19 Weichen getauscht werden. Für uns Reisende bedeutete dies, den Zug in Mürzzuschlag zu verlassen und mit dem Schienenersatzverkehr nach Wiener Neustadt zu fahren, um dort erneut zur Bahn zu wechseln.
Nur mit der „halben Mannschaft“ unterwegs zu sein war für mich nach wie vor ungewohnt. Ein weinendes Auge vermisste die zu Hause gelassenen Mannsbilder. Ein lachendes Auge genoss die ruhigere Atmosphäre und die Möglichkeit, sich intensiver mit den beiden mittleren Kindern unterhalten zu können.
Unsere Unterkunft in Wien/Hietzing konnten wir erst am späten Nachmittag beziehen. Aus diesem Grund deponierten wir also kurzerhand unsere Koffer in einem Schließfach des Wiener Hauptbahnhofs und machten uns auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Thematisch wollten wir uns der Kunst und der Architektur Otto Wagners und Friedensreich Hundertwassers widmen.
Unsere erste Station war selbstverständlich in diesem Zusammenhang der Karlsplatz. Vom in Verruf geratenen Drogenumschlagsplatz der 90er Jahre ist heute nichts mehr zu sehen. Familien, ganze Schulklassen und junge Leute laufen und sitzen verstreut herum und genießen die Zeit.
Vor mehr als 125 Jahren fuhr noch keine U-Bahn hierher. Dennoch wurde der Karlsplatz bereits von Otto Wagners (Dampf-)Stadtbahn angefahren, wenngleich in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem militärische Zwecke im Vordergrund standen. Von der Bevölkerung war sie aufgrund des hohen Fahrpreises zunächst nicht angenommen worden.
Otto Wagner gilt als DER österreichische Vertreter des Jugendstils. Mit dem Auftrag über die Planung und Errichtung der Stadtbahn konnte er ein Ziel verwirklichen, von dem er schon lange zuvor geträumt hatte. Funktionale Sachlichkeit sowie eine von der Natur abgeleitete ästhetische Formsprache waren die Kernelemente des Jugendstils, einer kurzen künstlerischen und architektonischen Epoche des angehenden 20. Jahrhunderts. Heute sind die Brücken und Viadukte der früheren Stadtbahn in das Wiener U-Bahn- bzw. S-Bahn-Netz integriert.
Ich führte Maja (13) und Linus (10) zum Otto-Wagner-Pavillon, einem Musterbeispiel des Wiener Jugendstils.
Wir versuchten anhand dieses Bauwerks, Typisches der Epoche herauszuarbeiten: florale Muster, neue Materialien wie Eisen, Stahl, Glas und Beton.
Auf der Suche nach weiteren Gebäuden aus dieser Zeit des Aufbruchs marschierten wir Richtung Schwarzenbergplatz. Umgeben von überwiegend klassizistischen Gebäuden stach das Palais der Französischen Botschaft klar hervor.
Der „Jugendstil“ war in Frankreich unter dem Begriff „Art Nouveau“ bekannt. Ob das Gebäude tatsächlich eine „Hommage an den Wiener Jugendstil“ sein oder vielmehr eine Provokation darstellen sollte, darüber scheiden sich noch heute die Geister.
Unsere Füße trugen uns im Anschluss zur Stadtbahnstation „Stadtpark“, womit wir wieder den Bogen zu Otto Wagner zurück spannten.
Nach einem ungeplanten Abstecher zum Stephansdom, der wieder einmal meiner Inkompetenz im Umgang mit Smartphones geschuldet war und entsprechendes Mir-Tun-Die-Füße-Schon-So-Weh-Gequengel der Kinder verursachte, nutzten wir dann doch noch einmal die Bequemlichkeit des U-Bahn-Netzes in Wien und fuhren zurück an den Start. Erneut am Karlsplatz startend ließ ich die Kinder nach einer „großen goldenen Kugel auf einem Dach“ Ausschau halten. Rätsel halten sie in aller Regel bei Laune. Das galt auch dieses Mal.
Die Lösung war bald im Ausstellungshaus der Wiener Künstlervereinigung „Secession“ gefunden.
Ausgehend von einer Gruppe ambitionierter, junger Künstler rund um Gustav Klimt fand eine Ablösung vom konservativen Künstlerhaus im Jahr 1897 statt. Nach Übertragung eines Grundstücks errichteten sie nach den Plänen des Wagner-Schülers Joseph Maria Olbrich dieses charakteristische Gebäude, das mehr noch als Wagners Stadtbahn-Bauten zum Wahrzeichen des Wiener Jugendstils werden sollte.
Beeindruckt von der liebevoll „Krauthappel“ genannten Kuppel – bestehend aus 2.500 schmiedeeisernen Lorbeerblättern und 300 Beeren – schlenderten wir weiter durch den Naschmarkt, der bei den beiden Kindern jedoch keine Begeisterungsstürme entfachen konnte. Zu exotisch 😉
Auch hinsichtlich des Wohnbaus hatte Otto Wagner gänzlich andere Vorstellungen als frühere Architekten. Zwar ließ sich sein Traum einer vollständigen Einwölbung des Wienflusses sowie der Errichtung eines „Prachtboulevards der Wiener Moderne“ zwischen Karlsplatz und Schönbrunn aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht mehr verwirklichen, Wagners „Majolikahaus“ an der Wienzeile lässt aber erahnen, wie sein Traum hätte aussehen können.
Er wollte zeigen, dass städtische Wohnhäuser nicht zwingend wie Paläste aussehen müssen, wie es damals noch üblich war. Säulen und Stuck waren daher nicht Teil seiner Planung. Stattdessen wurden glatte Fliesen mit floralen Jugendstilornamenten an der Fassade aufgebracht.
Ein weiterer Schüler Otto Wagners – Max Fabiani – plante das letzte Gebäude im Jugendstil, das wir uns ansehen wollten. Wenngleich die Urania äußerlich ein stark neobarockes Erscheinungsbild aufweist, entsprechen sowohl die Konstruktion als auch die räumliche Anordnung klar dem Stil der Wiener Secession.
An der Mündung des Wienflusses in den Donaukanal verabschiedeten wir uns von unserem kleinen Ausflug in die Welt des Jugendstils. Was wohl Wagner zur weiteren architektonischen Entwicklung Wiens gesagt hätte?