FreiGeist

Blattrankenwolken

Linus (9) traut sich oft nicht zu zeichnen. Er fühlt sich unter Druck gesetzt, wenn er die Bilder seiner älteren Geschwister, vor allem Majas Bilder, sieht. Alles Zureden hilft nicht. Alle schlauen Sätze kluger Pädagogen und einfühlsamer Mütter prallen an ihm ab. „Ich kann aber nicht zeichnen“, behauptet er dann weiterhin stur. Dabei zeichnet er eigentlich richtig gern. Wenn er es denn einmal tut.

Wenn ich einmal die seltene Gelegenheit habe, meine Zeit nicht durch fünf teilen zu müssen, sondern vielleicht nur durch zwei, ist es viel einfacher, eine Situation zu schaffen, in der der Junge sein Potential entfalten kann, ohne sich einem Konkurrenzdruck ausgesetzt fühlen zu müssen. „Hast du Lust, ein Kratzbild komplett selbst zu machen?“, fragte ich beiläufig. „Diese gekauften Kratzbilder? Die hab‘ ich mal im Spielzeuggeschäft gesehen“, erinnerte sich Linus. „Nein. Ich meinte wirklich, eines selber zu machen.“ Staunen legte sich über sein Gesicht. Ich schaffte Papier und Wachsmalkreiden herbei.

Wasservermalbare Wachspastellkreiden von Caran d’Ache

Linus grübelte lange über dem weißen Papier und entschloss sich, Streifen in Regenbogenfarben als Untergrund aufzumalen.

Viel anstrengender war es für ihn, eine zusätzliche schwarze Schicht Wachsmalkreide darüber zu malen.

Wenn man schon alles schwarz übermalt, warum dann nicht zuvor schwarze Schnecken zeichnen?
Bald geschafft!

Mit einem Schaschlikspieß „bewaffnet“ ging es nun an den spaßigen Teil. „Ein Wald oder ein Dschungel wäre cool“, überlegte Linus und kratzte vor sich hin.

Als er in die Mitte seines Waldes einen Christbaum setzte, kicherte er. „Sonne und Wolken braucht es auch noch.“ Wie schön war es für mich, ihn so aus sich herauskommen zu sehen. Triumphierend präsentierte er mir seine Idee: Bunte Blattranken ragten vom Himmel herab und zu diesem hinauf.

Ich lächelte ihn an. „Hat Spaß gemacht, Mama!“, sagte er mit einem stolzen Grinsen im Gesicht, drückte mir seine Zeichnung vorübergehend in die Hand und nahm mir das Versprechen ab, dass nur er ganz allein das Bild den anderen zeigen dürfe, sobald sie nach Hause gekommen waren. Ehrenwort!

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert