LONDON – Auf alten Treppelwegen
London ist eine Stadt mit unterschiedlichsten Gesichtern: elegant, pulsierend, modern, verrückt, steif, verrucht, exzentrisch, bunt, aristokratisch. Ich bin davon überzeugt, dass ein ganzes Leben nicht ausreicht, um jeden Winkel dieser Metropole zu erkunden. Bereits im Jahr 1801 überschritt die Einwohnerzahl der Stadt die Millionengrenze. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sie sich zur damals größten Stadt der Welt, gleichwohl sie sehr kompakt war. Die Menschen bewegten sich zu Fuß oder zu Pferde fort, nur die reichsten unter ihnen konnten sich Kutschen leisten. Über die verschmutzte Themse führten in dieser Zeit erst zwei Brücken. Am Fluss selbst verkehrten zahlreiche sogenannte „Wherries“, kleine Ruderboote, die der Beförderung von Menschen (und Waren) dienten. Da das Eisenbahnnetz Englands erst im Entstehen begriffen und die Straßen allgemein in schlechtem Zustand waren, hatte der Wassertransport einen extrem hohen Stellenwert. Engagierte Ingenieure wie James Brindley trieben im 18. Jahrhundert den (Aus-)Bau von Kanälen an, die neue Industriezentren der Midlands mit London sowie den Häfen an der Küste verbinden sollten. Zu Brindleys Lebzeiten folgten diese Wasserstraßen noch den natürlichen Konturen des Landes und schlängelten sich umständlich auch durch das Londoner Stadtgebiet. Die Industrielle Revolution überrollte die Insel regelrecht. Nur ein Augenzwinkern später – ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – hatten die Kanäle dann als essentielle Transportwege schon wieder ausgedient. Einige der Becken wurden zugeschüttet, zahlreiche Industriegebäude und Lagerhallen abgerissen oder einfach nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr aufgebaut. Die wenigen noch existierenden „Narrowboats“ transportieren schon lange keine Kohle mehr, sondern wurden geputzt und gebohnert und schippern Touristen und Wochenendausflügler durch die Gegend.
Wir hatten uns vorgenommen, einen Spaziergang entlang eines dieser Kanäle zu unternehmen und starteten dafür in der „Warwick Avenue“. Aus unerfindlichen Gründen flüsterte mir die Stadt während unserer Reise unentwegt irgendwelche Lieder ins Ohr und zwang mich, diese dann meinen Kindern vorzuspielen oder vorzusingen. Auch dieses Mal drängte ich ihnen den Ohrwurm kurzerhand auf, der mich befiel.
Nur einen Katzensprung von der U-Bahn-Station entfernt befand sich der Ausgangspunkt unserer Wanderung: „Little Venice“. Dort, wo der „Grand Union Canal“, die Einfahrt zum „Paddington Basin“ und der „Regent’s Canal“ zusammentreffen, bilden die schmalen Wasserstraßen ein dreieckiges Becken, in dessen Mitte „Browning’s Island“ als Rückzugsort für Vögel und sonstiges Getier dient.
Wir verbrachten eine Weile damit, die morgendliche Stimmung aufzusaugen. Es waren fast keine Menschen unterwegs. Nur hie und da sah man einen schwanzwedelnden Hund, der mit seinem noch schlaftrunkenen Herrchen oder Frauchen an der Leine Gassi ging. Im schwimmenden „Waterside Cafe“ wurden gerade die Tische für die ersten Gäste abgewischt.
Nach kurzen Orientierungsschwierigkeiten fanden wir zum „Regent’s Canal Towpath“ und schlenderten ihn gut gelaunt entlang. Die bunten Hausboote, die hier für eine jährliche Gebühr von £ 6.000,00 bis £ 8.000,00 ankern dürfen, fügten sich idyllisch in die herbstliche Landschaft.
Kaum zu glauben, dass der heutige Spazierweg ursprünglich ein sogenannter Treppelweg (auch Treidelpfad genannt) war. Auf solchen direkt am Wasser liegenden Wegen zogen Pferde die schwer beladenen Frachtboote flussaufwärts auf die energieschonendste Art, die man sich nur vorstellen kann. Diese Art des Schleppens nennt man auch „treideln“ (engl. „to tow“).
In der oberhalb des Kanals entlang laufenden „Northwick Terrace“ stehen einige prunkvolle Wohnhäuser, die vor allem von Freiberuflern und Akademikern bewohnt werden.
Das Leben auf einem der Hausboote ist oft nur auf den ersten Blick günstig. Zu den Liegegebühren, die ich vorhin schon erwähnte, müssen ja noch die Anschaffungs- und Instandhaltungskosten des Bootes selbst hinzugerechnet werden. Und auch mit den beengten Wohnverhältnissen muss man sich erst einmal arrangieren. Immerhin sind „Narrowboats“ nur etwa zwei Meter breit und dreizehn bis fünfzehn Meter lang.
Die Vormittagsstunden verstrichen, während wir gleichmäßigen Schrittes dem Weg folgten und die Ruhe genossen. Man kam sich überhaupt nicht wie im Zentrum einer Metropole vor. Es hätte auch der Klagenfurter Lendkanal sein können.
Am schwimmenden Chinarestaurant „Fengshang Princess“ …
… verließen wir den „Regent’s Canal Towpath“ für einen Abstecher zu einem der bekanntesten Aussichtspunkte Londons: „Primrose Hill“.
Am „Camden Market“ vertrödelten wir noch anderthalb Stunden. Ursprünglich als kleiner Handwerksmarkt im Hinterhof der 70er-Jahre-Konzertlocation „Dingwalls“ mit nur 16 Ständen konzipiert entwickelte sich der Markt zu einem der größten Londons. Bis unser Ausflugsboot, das uns über den „Regent’s Canal“ wieder zurück bringen sollte, ablegte, flanierten wir noch ein wenig am Markt herum.
Um vier Uhr nachtmittags hieß es am „Camden Market Lock“ dann „Leinen los!“ für unser „Narrowboat“.
Unser junger Reiseführer hatte allerhand spannende Geschichten rund um den „Regent’s Canal“ parat und wusste zum einen oder anderen schwimmenden Schmuckstück auch, in wessen Besitz es steht oder einst stand.
Für uns endete der Tag mit der Ankunft der „Milton“ in „Little Venice“. Solltet ihr einmal London einen Besuch abstatten und Lust auf ein wenig Landleben inmitten der lauten, pulsierenden Stadt verspüren, dann folgt uns doch auf unseren Pfaden! Ihr werdet es nicht bereuen!