ITALIEN/TOSKANA – Exkaliburs Bruder
Zurecht wird die Toskana als Wiege der Renaissance bezeichnet. Die detailreiche Neuinterpretation der römischen Antike vor dem Hintergrund eines klaren Regelwerks, was Proportionen oder Säulenanordnungen betraf, machten sich Meister wie Brunelleschi und Bramante zur Lebensaufgabe – mit Erfolg. Stilgerecht erheben sich majestätische Prunkbauten wie die Basilika di San Lorenzo in Florenz zum Glanzstück einer einzigartigen Zeit der Künste. Pienza wurde als „ideale Stadt der Renaissance“ sogar nach einem festen Plan errichtet, der dem strengen Reglement der Renaissance-Architektur vollumfänglich Rechnung trug.
Umso überraschender mutet es an, mitten in Toskana auf ein gotisches Bauwerk zu treffen, das seinesgleichen sucht. Unter einer monoton weißen, hochliegenden Wolkendecke türmte sich die Abbazia San Galgano auf – dachlos, seitdem Ende des 18. Jahrhunderts der Glockenturm einstürzte und dabei den Großteil der Gewölbe mit sich riss.
Viele Jahre vor diesem Unglück war die prunkvolle Abtei in den Händen des Zisterzienserordens. Zahlreiche Immunitäten und Privilegien hatten dem Kloster zu großer Macht verholfen, großzügige Schenkungen taten das Ihre.
Die Bauarbeiten zur Abtei begannen im Jahre 1220 und dauerten bis 1268 an.
Da mein Mann mein Faible für historische Stätten kennt, erbarmte er sich und beschäftigte den Minizwerg in der Natur, damit ich einen Blick IN die Abtei werfen konnte.
Vom Bischof von Volterra – Alberto Solari – geweiht folgten nur etwa hundert Jahre voller Pracht und Glorie, bevor sie in einer Zeit der Pest und der Hungersnöte mehr und mehr in Misswirtschaft getrieben so schnell unterging, wie sie errichtet worden war.
Die Abtei San Galgano verfällt seitdem zur Ruine. Mit ihr geriet auch der Mythos rund um den Heiligen Galgano Guidotti mehr und mehr in Vergessenheit. Als Sohn einer lokalen, niederen Adelsfamilie geboren und für ein Leben als Ritter bestimmt, lebte er ein lustvolles, brutales und verschwenderisches Leben in einer Welt voller Gewalt und Unordnung. Erst nachdem ihm der Erzengel Michael erschienen war, soll er dem weltlichen Leben den Rücken gekehrt und sich als Eremit am Montesiepi voll und ganz der Religion zugewandt haben. Als Zeichen seines Sinneswandels soll er sein Schwert in den Felsen gerammt haben, das seitdem niemand imstande war, wieder herauszuziehen.
Nach Guidottis Tod wurde am Montesiepi ihm zu Ehren eine Kapelle errichtet.
Der Legende nach soll ein Frevler versucht haben, Guidottis Schwert aus dem Felsen zu ziehen, woraufhin ihm ein von Gott gesandter Wolf die Hände abgerissen haben soll, um das Andenken an San Galgano zu bewahren. Diese Geschichte beeindruckte vor allem unseren Neunjährigen sehr.
Erst die zahlreichen Pilger, die zur Kapelle am Montesiepi kamen, um Galgano Guidotti zu gedenken, verursachten schlussendlich den Bau der nahe gelegenen Abtei. Beide Stätten sind Orte der Erinnerung. Und in diesem Sinne zündete Linus auch ein Kerzchen für unseren Emil an – ganz oben am Kerzenhalter.
Und was kann schöner sein, als das Leben, das einem geschenkt wurde, in vollen Zügen zu genießen?